Der Sensationsjournalismus wird, so habe ich den Eindruck, durch die sozialen Medien mehr und mehr befeuert. Das „Teilen“ von Unfallbildern oder das Abonnieren ganzer Channels, die ausschließlich über möglichst blutige Unfälle der Region berichten, ist sehr beliebt.
Mit großem Eifer hatte sich so auch die Boulevardpresse in Gestalt von Bild.de und einem einschlägig spezialisierten Reporter auf einen Unfall gestürzt, bei dem ein 16-jähriges Mädchen aus dem Fenster eines Wohnhauses gefallen war und sich verletzt hatte. Natürlich war der Artikel reichlich bebildert: Fotos des Mädchens im Krankentransportstuhl – zwar verpixelt, aber dennoch erkennbar – sowie Fotos des Elternhauses der Verunfallten, aus dessen Fenster sie gestürzt war. Die Verpixelung ließ die Kopfform des Mädchens, die linke Gesichtspartie, die Haare, Statur und Kleidung erkennen. Zudem waren das Alter und der Wohnort des Mädchens sowie weitere Details angegeben.
Der Text des Berichtes bestand im Wesentlichen aus angeblichen Angaben eines „Polizeisprechers“, der geäußert haben soll:
„Das Mädchen war tagsüber mit seiner Schwester am (…)-See zum Feiern. Dabei verlor die Schwester sie mehrfach aus den Augen. Es ist möglich, dass das Mädchen unter Drogen stand.“
Es wurde auch berichtet, dass die Polizei „Alkohol oder Selbstmordgedanken“ ausschließe. Tatsächlich war die Unfallursache zum Zeitpunkt des Unfalls noch nicht klar.
Das Landgericht Saarbrücken hat mit mittlerweile rechtskräftigem Urteil vom 16.07.2015 (4 O 152/15) die geschilderte Berichterstattung auf bild.de untersagt.
Das Gericht stellte fest, dass das Mädchen in dem Artikel von anderen erkannt werden konnte. Bei dem Fenstersturz als persönlichem Unglücksfall gebe es jedoch keinen Grund eine öffentliche Berichterstattung zu lancieren, die eine Identifizierung der Verunfallten zulässt. Ein Interesse der Öffentlichkeit an einer derartigen Berichterstattung bestehe nicht, der Schutz des Privatlebens setze sich in diesem Fall gegenüber dem Sensationsinteresse der Allgemeinheit durch, so das Urteil.
An einem Informationsinteresse der Öffentlichkeit daran, dass ein möglicher Drogenkonsum die Ursache des Sturzes gewesen sein könnte, zweifelt das Gericht ebenfalls.
In jedem Fall habe der Journalist jedoch die journalistischen Sorgfaltspflichten bei der Berichterstattung verletzt. Die Presse hat grundsätzlich alle Nachrichten vor ihrer Verbreitung auf ihre Wahrheit hin zu überprüfen. Deshalb muss bei zweifelhaften Sachverhalten oder zweifelhaften Quellen auch der Betroffene nach seinem Standpunkt befragt werden (hier also das Mädchen oder dessen Eltern). Bei offiziellen Polizeimeldungen darf sich die Presse hingegen normalerweise darauf verlassen, dass der Inhalt geprüft ist und ohne weitere Recherchen veröffentlicht werden darf. Es handelt sich dann um eine „privilegierte Quelle“.
Das Gericht hält es allerdings für sehr fraglich, ob die zitierte Aussage des Polizeibeamten als „amtliche Pressemitteilung“ bzw. als „polizeiliche Meldung“ anzusehen ist. Nach Angaben des Journalisten wurden ihm die Informationen zu dem Unfall von einem Polizisten, der kein offizieller Polizeisprecher war, telefonisch auf seine Anfrage hin mitgeteilt. Es handelte sich daher nach Ansicht des Gerichts nicht um eine offizielle Pressemitteilung. In jedem Fall seien die von dem Polizisten gegebenen Informationen seien derart dürftig gewesen, dass der Journalist den vagen, sich im Nachhinein nicht bestätigenden Verdacht des Dorgenkonsums nicht einfach hätte übernehmen dürfen. Konkrete Anhaltspunkte für einen Drogenkonsum des Mädchens hatten weder der Polizei noch dem Journalisten vorgelegen. Der Journalist hätte somit vor Veröffentlichung der Gerüchte weitere Nachforschungen anstellen müssen.
Das Urteil des LG Saarbrücken halte ich für richtig. Eine Berichterstattung über einen Unfall unter mutmaßlichem Drogeneinfluss kann über Jahre hinweg negative Folgen für den Jugendlichen haben. Ein entsprechender Schutz ist also gerade in einem solchen Fall notwendig.
Besonders interessant ist auch, dass das Gericht die Auskünfte eines „Kontaktmannes“ bei der Polizei nicht als Informationen aus „privilegierter Quelle“ einstuft, sondern eine Nachforschungspflicht bei der Presse sieht.
Nur am Rande sei bemerkt, dass es erstaunlich war, dass der Journalist, der den Artikel verfasst und die Fotos angefertigt hatte, noch vor den Eltern des Mädchens am Unfallort war. In einer ländlichen Gegend ist nicht davon auszugehen, dass dies bloßer Zufall war.
Sie schreiben: „Das Urteil des LG Saarbrücken halte ich für richtig. Eine Berichterstattung über einen Unfall unter mutmaßlichem Drogeneinfluss kann über Jahre hinweg negative Folgen für den Jugendlichen haben. Ein entsprechender Schutz ist also gerade in einem solchen Fall notwendig.“
In der heutigen Zeit ist die Bestrafung von BILD und des Journalisten offenbar tatsächlich notwendig. Von der Tendenz her halte ich die Rechtsprechung aber zu einseitig.
Mindestens genau so hart wie gegen den Journalisten und BILD sollte auch gegen die vorgegangen werden, durch welche auf Grund solcher – wahren oder unwahren – Informationen, ohne diese selbst geprüft zu haben und ohne dafür – im Falle wahrer Tatsachen – einen berechtigten Grund zu haben, negative Folgen für den Betroffenen entstehen.
Das wäre juristisches Neuland, für die Rechtsanwälte und die Rechtsprechung schwieriger. Zum Abbau von Konflikten und sozialen Frieden jedoch von Vorteil. Niedere Instinkte hätten weniger Einfluss auf das tägliche Leben aber auch in der großen Politik.